?:abstract
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"Moderne sind arbeitsteilige, nach Funktionen differenzierte Gesellschaften. Funktional differenzierte Gesellschaften können nur bestehen, wenn es für alle glaubwürdig erscheint, dass alle die gleichen Chancen hatten, in die unterschiedlichen Positionen zu gelangen; dann lässt sich die Ungleichheit der Ergebnisse aus der Ungleichheit der Leistung rechtfertigen. Der Bestand moderner Gesellschaften hängt also entscheidend vom Glauben der Bevölkerung an das Wertepaar Gleichheit und Leistung ab. Gleichheit bedeutet in den Verfassungen moderner Gesellschaften die Gleichbehandlung der Bürger durch den Staat (Boldt 1990: 77), nicht aber Gleichheit der Ergebnisse. Funktional differenzierte Gesellschaften würden sich selber gefährden, wenn sie die Gleichverteilung von Ressourcen wie Vermögen, Einkommen oder Bildung als ein Ziel ansähen. Ergebnisgleichheit wird daher nur noch als ein Mindeststandard angestrebt, der nur am unteren Ende der Verteilung Ungleichheit ausschließt und der nicht aus der individuellen Leistung sich ergibt, sondern mit dem für jeden geltenden Bedarf festliegt. Niemand sollte weniger als ein bestimmtes Einkommen oder ein bestimmtes Bildungsniveau haben. Die Differenzierung nach Leistung, von der differenzierte Gesellschaften leben, soll nicht gefährdet werden; aber ihre unwillkommenen Konsequenzen, die Ausgrenzung derer, die wenig leisten können, sollen minimiert werden. In modernen Gesellschaften konkretisiert sich das Wertepaar Gleichheit und Leistung daher in der Spannung zwischen dem Minimalstandard des Bedarfs, auf dem noch die Gleichheit der Ergebnisse garantiert ist, und dem Leistungsprinzip, das Gleichheit der Chancen voraussetzt und zu Ungleichheit der Ergebnisse führt. Diese Spannung ist in zwei Aussagen des ALLBUS ausgedrückt (Kraus / Müller 1990, Wagner 1997, Braun 1998, Noll 1998). Erstens: „Die Rangunterschiede zwischen den Menschen sind akzeptabel, weil sie im Wesentlichen ausdrücken, was man aus den Chancen, die man hatte, gemacht hat" - im Folgenden „Ungleichheit aus Leistung" genannt. Zweitens: „Nur wenn die Unterschiede im Einkommen und im sozialen Ansehen groß genug sind, gibt es auch einen Anreiz für persönliche Leistung" - im Folgenden „Ungleichheit als Leistungsanreiz" genannt. Die Befragten konnten zu diesen Vorgaben auf 4 Stufen zwischen „Stimme voll und ganz zu" (Code 1), „Stimme eher zu" (2), „Stimme eher nicht zu" (3), „Stimme überhaupt nicht zu" (4) Stellung nehmen. Wer zustimmt, unterstützt das mit der Chancengleichheit gekoppelte Leistungsprinzip; wer nicht zustimmt, unterstützt das in der Ergebnisgleichheit eines Minimalstandards erfasste Bedarfsprinzip. „Ungleichheit aus Leistung" erfasst die Spannung zwischen Gleichheit und Leistung genetisch oder mit Blick auf die Rechtfertigung sozialer Unterschiede, „Ungleichheit als Leistungsanreiz" hingegen funktional oder mit Blick auf den Nutzen sozialer Unterschiede. Die Spannung zwischen Ergebnis- und Chancengleichheit, zwischen Bedarf und Leistung wurde nun in staatssozialistischen Verfassungen zugunsten der ersten, in kapitalistischdemokratischen Verfassungen zugunsten der zweiten Seite aufgelöst. Da die beiden Aussagen den Befragten des ALLBUS in Westdeutschland zwischen 1976 und 2000 sieben Mal, in Ostdeutschland zwischen 1991 und 2000 vier Mal vorgelegt wurden, lässt sich am Testfall der deutschen Wiedervereinigung prüfen, ob der Verfassungsunterschied sich in einem Mentalitätsunterschied spiegelt und ob diese Unterschiede durch die Transformation der alten in die neue Verfassung eingeebnet werden. Welche Unterschiede zwischen den beiden Landesteilen kann man gleich nach der Wiedervereinigung und in der folgenden Zeit der Transformation erwarten?"
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