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Analphabetismus ist bekanntermaßen kein neues Phänomen. Die derzeitige Diskussion in der allgemeinen wie in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit verweist aber auf eine aktuell wachsende Sensibilität für die verschiedenen Spielarten, möglichen Begriffe und Interpretationen von Schriftsprachdefiziten. In einer ersten Annäherung ließe sich sagen, dass Analphabeten nur mehr Menschen sind, die nicht lesen und schreiben können. Schärft man seinen Fokus, so impliziert der Begriff auch ein soziales Stigma: Diejenigen, die des Lesens und Scheibens "selbstverständlich" kundig sind, pflegen immer wieder Vorbehalte gegen Menschen, die es nicht sind. Und neben den vermuteten Ursachen oder Motiven für literale Benachteiligung bleibt schließlich nach den Kriterien und Maßstäben zu fragen, nach denen geurteilt wird. In seiner hier vorgelegten Studie erkundet Steffen Kleint die Forschungslandschaft zum Thema Analphabetismus. Mit Blick auf das gewaltige Spektrum von historischen und aktuellen Untersuchungen extrahiert der Autor Traditionslinien, Forschungsansätze und Argumentationen, die darauf abzielen, das Phänomen zu beschreiben, Begriffsinhalte zu definieren und Handlungsoptionen für die zukünftige wissenschaftliche Betrachtung und Erforschung des Analphabetismus zu eröffnen. Dabei erliegt Kleint nicht der Gefahr -wie er sie in seiner Zusammenschau von Forschungsansätzen immer wieder ausgemacht hat -, den Analphabetismus in einer wissensdominierten Gesellschaft lediglich als selbstverschuldete Unfähigkeit zu betrachten. Wenn dem so wäre, so sollte es ausreichend sein, hinreichend Maßnahmen zum Lesen-und Schreibenlernen anzubieten, sodass diejenigen Menschen, die bisher als "Analphabeten" galten, befähigt werden würden, (wieder) an komplexen gesellschaftlichen Prozessen zu partizipieren. Steffen Kleint zeigt zahlreiche Ansätze in der theoretischen Grundlagenforschung auf, die es wert sind, empirisch hinterfragt und theoretisch weiterentwickelt zu werden. Die Studie ist somit ein exzellent recherchiertes, sachlich wie systematisch geschildertes und sympathisches Plädoyer für eine differenzierte, vorurteilsbewusste und empirisch orientierte Forschung über das ohnehin kontrovers diskutierte und erforschte Phänomen. Erst darauf aufbauend kann eine pädagogische Praxis für die Alphabetisierungsarbeit in unserer modernen Gesellschaft entwickelt werden. Schließlich geht es in diesem Buch nicht nur um "Objekte" einer Forschung zum funktionalen Analphabetismus, sondern um die Menschen, also auch um deren Schicksal in Vergangenheit und Zukunft. Bei seiner Sammlung und Systematisierung der bisherigen Diskussionsstränge lässt sich der Autor von drei Fragen leiten: erstens von der Frage der Qualifizierung der literalen Benachteiligung, zweitens von der Quantifizierung literaler Benachteiligung und schließlich von der Legitimierung von Maßgaben empirischer Bestimmungen. Nach ei-ner ausführlichen Untersuchung konkreter retrospektiver, empirischer, qualitativer und legitimatorischer Aspekte der Alphabetisierungsarbeit formuliert der Autor weiterführende Fragen, die zugleich als Ergebnisse seiner Ausführungen und als Empfehlungen für weitere Forschungsbemühungen zu lesen sind. Anhand aktueller, vornehmlich internationaler Diskurslinien wirft Steffen Kleint schließlich die Frage auf, ob die Rede von Literalität und andere ganzheitliche Ansätze, wie der des Lebenslangen Lernens, nicht "Ausdruck eines weitgehenden harmonisierenden Prospekts" sind, ob sie also einen Versuch darstellen, den ökonomischen Globalisierungstendenzen kritisch zu begegnen. Mit Verweis auf den "Capability Approach" sowie die weltweit in Gang gekommene Diskussion über eine notwendige Verknüpfung von Literalität und ökonomischer Entwicklung als Voraussetzung für die Freiheit des Individuums hat der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen jüngst überzeugend argumentiert, dass unsere moderne Gesellschaft, die entlang von Wissen und Ökonomie organisiert ist, noch viel zu leisten hat. Denn sie muss all den jenigen marginalisierten Gruppen, denen sie bisher den Zugang zu Literalität verweigerte, gerecht werden und ihnen eine Teilhabe an ihrer und unserer Lebenswelt ermöglichen. Zu dieser Debatte trägt dieser Studientext von Steffen Kleint maßgeblich bei. Das Thema der literalen Kompetenz im Erwachsenenalter wird im Zuge einer von den Vereinten Nationen ausgerufenen gegenwärtig auch in Deutschland durch vielfältige Forschungsinitiativen in seiner gesellschaftlichen Relevanz gewürdigt und mit wissenschaftlicher Aufmerksamkeit verfolgt. Bereits in den 1970er Jahren wurde man auf das Phänomen Analphabetismus aufmerksam, da eine zunehmend wachsende Anzahl von Menschen aufgrund unzureichender Lese-und Schreibkompetenzen zum Verlierer auf dem Arbeitsmarkt wurde. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, entstanden in verschiedenen Bildungseinrichtungen, -initiativen und Jugendvollzugsanstalten die ersten Alphabetisierungskurse. Im November 1980 fand die erste Konferenz "Analphabetismus unter deutschsprachigen Jugendlichen und Erwachsenen" statt . Doch nach dreißig Jahren pädagogischer Arbeit bleibt festzuhalten, dass auch in Gesellschaften, in denen die Teilhabe an einem "allgemeinbildenden Schulsystem verpflichtend ist, Erwachsene leben, die Lesen und Schreiben nicht oder nicht richtig gelernt oder wieder verlernt haben" . Und kritisch bemerkt man: Diese Erkenntnis wird im allgemeinen bis heute noch von der UNESCO außer acht gelassen. Im Rahmen einer "weltweiten Problematik" wird behauptet, daß der Analphabetismus "bekämpft" werden kann, sobald für alle Kinder dieser Welt eine "richtige Schulausbildung", d. h. eine langjährige Beschulung garantiert wird ). Von diesem Befund ausgehend, ist man mittlerweile bestrebt, bisherige praktische Erfahrungen und theoretische Standpunkte der Alphabetisierungsarbeit zu systematisieren und in Hinblick auf empirische Forschungsvorhaben fruchtbar zu machen. Die vorliegende Arbeit soll hierzu einen Beitrag leisten. Einen entscheidenden Punkt oder eine Klammer der aktuellen Forschungsinitiativen bilden die kursierenden quantitativen Schätzungen der betreffenden Personengruppe. Erst durch die Annahme einer beträchtlichen Dunkelziffer gewinnt das Thema der literalen Benachteiligung maßgeblich an pädagogischer und politischer Brisanz. Bereits vor zwanzig Jahren schätzte man, unter Berufung auf die UNESCO, die Dunkelziffer an illiteraten Menschen ohne Migrationshintergrund in Deutschland auf mehrere Millionen. Damals vermutete man, dass in der Bundesrepublik ca. 500.000 deutschsprachige Erwachsene ohne Buchstabenkenntnis und ohne die Fähigkeit, ihren eigenen Namen schreiben zu können, leben. Bei ca. 2,2 Millionen schätzte man, dass die Lesekenntnisse für die Bewältigung einfacher alltäglicher Anforderungen, wie Post, Bank etc., nicht ausreichen würden (vgl. . Zur Unterscheidung von Alphabeten und Analphabeten wird in der Regel gefordert, dass sie ihren Namen schreiben und leidlich lesen können (vgl. . Entsprechend wurde aufgrund einer Erhebung von 1912, die den Prozentsatz der Analphabeten in Deutschland mit 0,01 bis 0,02 Prozent bezifferte, angenommen, Analphabetismus sei hierzulande offiziell beseitigt. Mittlerweile ist jedoch deutlich geworden, dass das Analphabetentum aufgrund derartiger Festlegung von Normen auf niedrigstem Niveau lediglich "unsichtbar" geworden ist . Seitens der politischen Entscheidungsträger und pädagogischen Anbieter sucht man daher vor allem nach "potentiellen Nachfragern" . Beforscht wird eine mehrere Millionen starke "Personengruppe, die aufgrund unzureichender Beherrschung der Schriftsprache nur eingeschränkt am gesellschaftlichen und beruflichen Leben teilhaben kann" (Schneider / Gintzel . Diese potenzielle pädagogische Klientel tritt komplizierterweise als ein soziales Phänomen aber nicht in Erscheinung. Sie entzieht sich durch eine ausgeprägte "Selbstisolation in einem Raum fehlender Kultur und in einem Raum von Sprachlosigkeit" f.) den fürsorglichen und forschenden Blicken. Und so besteht wohl die erste Herausforderung darin, "ins Verborgene des Feldes einzudringen und eine genügend große Zahl funktionaler Analphabeten überhaupt anzutreffen" (Schneider / Gintzel . Genau an diesem Punkt ist in der aktuellen Forschungslandschaft nun eine folgenreiche Divergenz zu beobachten: Man geht in der Forschungsanlage allgemein von nicht lernenden Illiteraten aus, bezieht sich dann aber faktisch fast ausschließlich auf die Subgruppe der lernenden. Zwar ist bekannt, dass im Jahr 1982 ca. 2.000 illiterate Menschen in 130 Einrichtungen der Erwachsenenbildung unterrichtet wurden; 1984 waren es bereits ca. 6.000 in 250 Einrichtungen (überwiegend Volkshochschulen) (vgl. . Aber diejenigen illiteraten Menschen, die nicht an derartigen Kursen teilnehmen, werden quantitativ nicht erfasst. Betreffs nicht lernender Illiteraten kann man sich zurzeit weder auf empirische Erkenntnisse stützen -allenfalls auf einige retrospektive Beschreibungen in der Perspektive von Lernenden -, noch kann man in der Theorie, die in Deutschland bislang vor allem anhand des Begriffs "funktionaler Analphabetismus" geführt wurde, auf eine Differenzierung zwischen lernenden und nicht lernenden bauen. So bedingt jene Divergenz auch eine weitreichende Unsicherheit in definitorischen Belangen, weil man einerseits nach mehr oder weniger operationalisierbaren Gegenstandbestimmungen fragt und anderseits eine kaum einholbare Heterogenität derselben konstatiert, nicht zuletzt, um niemanden zu stigmatisieren. Die Quantifizierung des funktionalen Analphabetismus stellt uns vor zahlreiche Problemkonstellationen. Fundamental ist die Identifikation der Zielgruppe: Was zeichnet sie aus, wie ist sie eindeutig von anderen abzugrenzen? Darauf aufbauend ist eine Operationalisierung zu etablieren, die genau die vorher festgelegte Differenzierung abbildet und hinsichtlich der Zielgruppe quantitativ bestimmen kann (Schneider / Gintzel . Anderseits wohl soll man selbst noch mit dem Begriff "funktionale Literacy" vorsichtig umgehen: Bedürfnisse und Pläne von Menschen unterscheiden sich oft sehr von denen, die Regierungen, Bildungssysteme, Testautoren oder Arbeitgeber spezifizieren, und was "funktional" für eine Person ist, mag für eine andere nicht funktional sein (Ivanic / . So mag ein "Universitätsprofessor (…) in vielen Bereichen literal hoch gebildet sein, könnte jedoch ungeübt sein in den Literacies, die z. B. mit Mietimmobilien oder Verpachtung zu tun haben" (ebd. S. 19 f., . Und so fragt man: "Die Trennschärfe des Begriffs scheint verloren, hat sich damit auch die Problematik verflüchtigt?" (Stagl / Dvorak / Jochum 1991, S. XIV). Bei Fragen der Definition kommt neben den unausgewiesenen Rückschlüssen auf nicht lernende Illiteraten zudem eine weitere, noch allgemeinere Problematik zum Tragen: Um sogenannte "eklatante Schriftsprachdefizite" (Schneider / Gintzel / Wagner 2008, S. 17) mehr oder weniger genau bestimmen zu können, muss zuvor auf den jeweils legitimen "Standpunkt einer alphabetisierten Gesellschaft" rekurriert werden. Dieser Standpunkt steht in einem "ständigen Aushandlungsprozess" (Schneider / Gintzel / Wagner 2008, S. 18 f.) und kann daher nur für einen begrenzten Zeitraum Gültigkeit beanspruchen. Das literale Mindestniveau der Gesamtgesellschaft ist allem Anschein nach im Steigen begriffen. Es herrscht eine allgemeine Um-oder Aufbruchsstimmung, da in naher Zukunft die "relevante Form der Arbeit die Wissensarbeit wird" (ebd.). In Zeiten ökonomischer Globalisierung sollen die bislang hinreichenden literalen Kompetenzen nicht mehr genügen und man bekommt den Eindruck vermittelt, als werde dieser "globale Anspruch (…) bis in die kleinsten Zellen der Gesellschaft als Maßstab ernst genommen" (ebd., S. 11). Entsprechend konstatiert man: Die Kluft zwischen den Menschen, die die Anforderungen der Informationsgesellschaft erfüllen können, und denen, die ausgeschlossen werden, vergrößert sich zusehends. Um diesen Ausgrenzungstendenzen (social exclusion) entgegenzuwirken, gewinnen Bildungsprogramme an Bedeutung, die im Sinne einer "zweiten Chance" Möglichkeiten der Teilhabe an der Gesellschaft und der Arbeitswelt bieten . Aus volkswirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht scheint mit Blick auf die Betroffenen kein Weg an der Qualifizierung von Analphabeten vorbeizuführen . Die Veränderung muss dabei beide Seiten einbeziehen: Die "Menschen und die gesellschaftlichen Institutionen. Beide sind reflexiv aufeinander angewiesen" (Schneider / Gintzel . Was aber bedeutet diese Annahme konkret? Wo werden welche literalen Mindeststandards in welcher Hinsicht anspruchsvoller? -Die Beantwortung solcher Fragen bleibt offensichtlich weiterhin eine Sache der Aushandlung und der wissenschaftlichen Klärung. In jedem Fall kann festgehalten werden, dass sich bereits in der theoretischen Bestimmung dessen, was man unter einer literalen Benachteiligung versteht, viele entscheidende und nicht leicht zu erwägende Aspekte bündeln. So versucht man momentan, ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, das sowohl lernende wie nicht lernende Illiteraten umfasst. Gesucht wird eine Arbeitsdefinition, mit der sich ein literales Kontinuum annehmen und zugleich ein bestimmter Ausschnitt fokussieren lässt und mit der man außerdem wissenschaftliche Neutralität wahrt, ohne normative und speziell pädagogische Gemeinplätze zu brüskieren. Es besteht allerdings noch weitgehende Unklarheit darüber, wie mit der gegebenen terminologischen Diversität umzugehen ist, und das nicht nur wegen der eben erwähnten Implikationen. Es ist zudem fraglich, wo Nahtstellen zwischen deutschen, europäischen und amerikanischen Debatten genutzt werden können, inwieweit eine einheitliche Terminologie jeweils möglich und sinnvoll ist oder in welcher Weise Lernleistungsmessungen mit pädagogischen Ansprüchen korrelieren. Angesicht eines derartigen Forschungskomplexes ist man zunächst einmal gut beraten, sich darum zu bemühen, bisher leitende Annahmen in ihrem theoretischen und empirischen Gehalt transparent zu machen. Dies erlaubt einerseits, die Theorie in reflektierter Weise empirisch zu wenden beziehungsweise die empirischen Ergebnisse in differenzierter Weise theoretisch aufzunehmen. Auf der anderen Seite kann damit verhindert werden, dass theoretische Probleme und empirische Unwägbarkeiten vorwiegend implizit wirken und mithin nicht nur Verwirrung, sondern sogar unmerklich Verwirrung stiften. So soll hier eine wissenschaftliche Bearbeitung der Thematik ermöglicht werden, indem vorgängige Selbstverständnisse beleuchtet, gegensätzliche Ansätze ins Gespräch gebracht, einzelne Argumentationsstränge gebündelt und gravierende Reibungspunkte aufgezeigt werden. In einem ersten Schritt geht es um die Sondierung des wissenschaftlichen Diskurses im deutschen Sprachraum, der immer auch in Kontakt mit internationalen Entwicklungen stand und steht. Momentan ist zu beobachten, dass im Rahmen dieses Diskurses zum Leitbegriff des funktionalen Analphabetismus zunehmend Distanz hergestellt wird. Stattdessen wird eine international anschlussfähigere Rede von "Literalität" beziehungsweise "Illiteralität" bevorzugt. Tendenziell wird mit dem englischen Begriff "literacy" einer sozialwissenschaftlichen Sicht sowie einem egalitären Anspruch auf Schriftsprache Vorschub geleistet. Etwa erläutert man: Der Entscheidung für den Begriff "Literalität" und gegen den Begriff "Analphabetismus" liegt die Annahme zugrunde, dass das in dem Begriff "Analphabetismus" mitschwingende dichotome Verständnis nicht geeignet sei, da vielmehr davon auszugehen ist, dass alle Menschen bis zu einem bestimmten Grad in der Lage sind, mit symbolisch verschlüsselter Information umzugehen und kein eindeutiger Mindeststandard gesetzt werden kann . Eine wesentliche Prämisse beim hiesigen Vorgehen ist, dass mit einer Sammlung und Systematisierung von bisherigen Diskussionssträngen ein Hintergrund gebildet werden kann, vor dem sich zeitgemäße wissenschaftliche Initiativen angemessen entwickeln lassen. Im Besonderen soll hier auf folgende Aspekte Wert gelegt werden: In einer großen Linie ist zwischen eher theoretischen und eher empirischen Diskussionszusammenhängen zu unterscheiden. Dieser analytischen Trennung von Theorie und Empirie folgt auch die Gliederung der vorliegenden Untersuchung. Zwar wird die empirische Forschung von Theorie und die theoretische Forschung von Empirie inspirierteines ist meist nur so gut wie das andere, doch gehen theoretische und empirische Annahmen und Ansprüche nur bedingt ineinander auf. Bei aller Verschränkung empfiehlt es sich, die Differenzen nicht zu vernachlässigen. Im aktuellen Diskurs um den funktionalen Analphabetismus dominieren offensichtlich theoretische Annahmen und zugleich uneingelöste empirische Ansprüche. Entsprechend entbehrt die Theorie bislang weitgehend empirisch gesicherter Grundlagen, weswegen sie im Folgenden hauptsächlich mit Blick auf empirische Forschungen weiterentwickelt werden soll. Insoweit es hier also um eine Sondierung des Diskurses geht, wird dies vor allem unter Berücksichtigung von aktuellen Tendenzen und überwiegend in Hinblick auf empirische Forschungsanstrengungen betrieben. Dass der Diskurs mit Gewinn auch in größeren Zeiträumen oder auch verstärkt in theoretischer Perspektive zu diskutieren ist, bleibt dabei unbenommen. Hier sollen nur andere Schwerpunkte gesetzt werden. Vor allem sollen im Folgenden die Relationalität des Leitbegriffs sowie die gleichzeitige Dominanz soziolinguistischer und gesellschaftskritischer Ansätze in den Blick genommen werden. Zunächst werden diese Aspekte als theoretische Entwicklungen dargestellt, weitgehend ohne Ansehung der empirischen Forschung. Erst in einem zweiten Anlauf ist dann auf empirische Impulse und Fragen einzugehen, dann aber umso dezidierter und in Auseinandersetzung mit den entsprechenden theoretischen Annahmen. Alles in allem und also auch quer zur Differenzierung zwischen theoretischen und empiri-schen Erkenntnissen gliedert sich das Buch entlang von drei Leitfragen: Erstens ist zu fragen, wie literale Benachteiligung qualifiziert, zweitens wie sie quantifiziert werden kann. Drittens ist zu eruieren, wie Maßgaben der empirischen Bestimmungen legitimiert werden. 1. Retrospektive Aspekte Die Rede vom funktionalen Analphabetismus in Deutschland steht im Kontext einer Entwicklung der Schriftsprache zum maßgeblichen Medium des gesellschaftlichen Verkehrs in ganz Europa. Erst mit der neuzeitlichen Ausbreitung eines Alphabetentums wurde der Analphabetismus zu einem Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit. So wurde bereits im 17. Jahrhundert das Analphabetentum zu einer Erscheinung des öffentlichen Lebens. "Zeitgenössische Hinweise auf den Mangel an Lese-und Schreibfertigkeit zeigen, daß das Analphabetentum mehr als bisher aufzufallen begann" . Vom damaligen schriftsprachlichen Zustand im deutschen Sprachraum erfährt man: In Frankfurt am Main waren 1612 die im Rat sitzenden Handwerker des Lesens und Schreibens noch unkundig. In Berlin konnte 1615 ungefähr die Hälfte der Bürgerschaft nicht schreiben. Auch in Sachsen stellte man 1617 fest, daß es Ratsherrn gab, die Analphabeten waren. In Lübeck beschwerten sich 1668 die Amtsbrüder, daß keiner der fünf Älterleute lesen und schreiben könne (…). So waren denn auch im Jahre 1700 in Frankfurt am Main unter 50 Nachlässen von Kaufleuten 28 Prozent ohne ein Buch, 1750 unter 107 Nachlässen 16 Prozent ohne ein Buch. Bei den Handwerkern lagen die Zahlen noch höher. Im Jahre 1700 waren 37 Prozent der Frankfurter Nachlässe ohne ein Buch (ebd., S. 46). Die damaligen Diskussionen über diese neue soziale Auffälligkeit mündeten vor allem in der Einführung einer allgemeinen Schulpflicht. Die schulischen Institutionen sollten dafür Sorge tragen, dass literale Kompetenzen sich gesamtgesellschaftlich ausbreiten. Man ging in Deutschland -wie auch in anderen westeuropäischen Ländern, z. B. England, Frankreich, Niederlande -davon aus, dass der Analphabetismus durch die gesetzlich abgesicherte Schulpflicht (seit 1880) beseitigt werden könne . Dieses Selbstverständnis hat sich im deutschen Sprachraum bis in die 1970er Jahre gehalten. Ab dieser Zeit sieht die pädagogische Praxis sich mehr und mehr mit einem Analphabetentum trotz Schulbesuchs konfrontiert . In der Folgezeit begann man den Analphabetismus differenzierter zu betrachten und auf verschiedene schriftsprachliche Praxen zu beziehen. In diesem Zuge taucht dann im Bildungssektor die Rede vom funktionalen Analphabetismus auf, die es ermöglichen soll, literale Schwächen unter dynamischen und pluralen Gesellschaftsverhältnissen auf einen Begriff zu bringen. Dabei wurde schnell klar, dass es wenig sinnvoll ist, den Terminus "funktionaler Analphabetismus" (…) für solche Menschen zu gebrauchen, die beim Schreiben orthographische, grammatische oder stilistische Fehler machen, ansonsten aber durchaus in der Lage sind, den Anforderungen des Alltags und auch des berufl ichen Lebens gerecht zu werden ). Die Differenzierung des Analphabetismus in Hinblick auf verschiedene Funktionen und die "Entwicklung hin zu einem relationalen Begriff" stellen die Bildungsforschung nun vor eine Herausforderung: Über literale Benachteiligung lässt sich jetzt nicht länger pauschal, sondern nur noch in spezifischen gesellschaftlichen Kontexten reflektieren. Was unter funktionalem Analphabetismus zu verstehen ist, kann nicht mehr nur an bestimmten schriftsprachlichen Niveaus festgemacht werden. Der Begriff lässt sich nur noch variabel, je nach gesellschaftlichem Anspruch bestimmen. Unter der Berücksichtigung gesellschaftlicher Ausdifferenzierungen und unter Berücksichtigung einer allgemeinen "Exklusionstendenz" arbeitet man mit einem "ausdeutbaren Zugangsbegriff" und betont immer auch die Relativität der vorgebrachten Argumente und erhobenen Datensätze. Hierbei läuft man allerdings Gefahr, trotz hoher Detail-und Messgenauigkeit weitgehend unverbindlich zu bleiben und kein neues Wissen zu produzieren. In dieser Hinsicht ist davor zu warnen, dass mit zunehmender Differenziertheit in der Betrachtungsweise das Phänomen auch zusehends abstrakter und ungreifbarer wird. Wenn eine Begriffsklärung angestrebt wird, so muss man sich auf Abstraktionen und Unsicherheiten einlassen, um schließlich eine nachvollziehbare Argumentation führen und einen begründeten Standpunkt beziehen zu können (vgl. . In pointierter Darstellung lässt sich resümieren: Der Begriff "funktionaler Analphabetismus" kann mehr verbergen als er offenbart -er steht in der Gefahr, ein schlechter Mythos zu sein. Ein schlechter Mythos wird er, wenn jemand denkt, er habe mit der Bezeichnung schon begriffen, worum es geht . Nun steht hinter der Spannung von begrifflicher Relativität und Verbindlichkeit ein recht anspruchsvolles Verständnis von dem, was zu können ist, um in der hiesigen Gesellschaft als "alphabetisiert" oder "literalisiert" zu gelten. Die Ansprüche in literalen Lebensbereichen sind beträchtlich gestiegen. Somit wird auch das Forschungsfeld der IIliteralität beträchtlich komplexer. So ist der funktionale Analphabetismus nicht einfach negativ bestimmt. Er ist durch viele Kompetenzen, die vor noch nicht allzu langer Zeit als Indizien für Alphabetentum galten, mitunter sogar positiv ausgezeichnet. So wird festgestellt: Die "modernen Analphabeten" (…) bzw. die "funktionalen Analphabeten" sind in einem doppelten Sinne nicht schriftlos: Diese Menschen sind in einer schriftlichen Gesellschaft und Kultur sozialisiert worden, sind deswegen auf jeden Fall mit Schrift in Berührung gekommen (in der Familie, in der Schule, im Alltag) und wissen auch ganz genau über die enorme Bedeutung von geschriebener Sprache und Schriftlichkeit Bescheid. Das ist die eine Seite. Die andere Seite betrifft die Tatsache, daß sie zwar nicht über Schriftlichkeit verfügen, im Sinne, daß sie kaum zur Schriftkultur Zugang haben, dennoch "Lese-und Schreibkenntnisse" bzw. eine relative "Alphabetisiertheit" aufweisen können ). Anderorts heißt es: "Die Gruppe der funktionalen Analphabeten ist weder leicht zugänglich noch homogen" (Schneider / Gintzel . Hingegen: "Personen ohne jegliche Schriftsprachkenntnisse werden als totale Analphabeten bezeichnet. Diese Form des Analphabetismus tritt überwiegend in sogenannten Entwicklungsländern auf" . Wie unterscheiden sich die Begriffe "Analphabetismus" und "funktionaler Analphabetismus"? Worin liegt die Schwierigkeit, eine allgemein akzeptierte Definition für das Phänomen des funktionalen Analphabetismus zu finden? Wie hängen funktionaler Analphabetismus und soziale Exklusion zusammen? Benennen Sie Beispiele. Als ein generelles Merkmal des funktionalen Analphabetismus findet man in der Literatur festgehalten, dass es sich hierbei um ein zeit-oder ortsunabhängiges Phänomen handelt. Im Unterschied zu medizinischen oder linguistischen Annahmen genereller literaler Defizite und ebenso in Abgrenzung zu ökonomischen oder pädagogischen Universalismen spricht man beim funktionalen Analphabetismus von einem "dynamischen Begriffsverständnis" , das heißt von einer terminologischen Dynamik, die man im Wesentlichen vom Attribut "funktional" ausgehen sieht. Es besteht offensichtlich eine Reibung zwischen dem relativen Begriff des "Funktionalen" und dem recht apodiktisch wirkenden Begriff des "Analphabetismus". Während der letztere ein Entweder-Oder nahezulegen scheint, wird eine "funktional" attribuierte Illiteralität mit spezifischen gesellschaftlichen Erwartungen verknüpft: Die schreibenden und lesenden Subjekte sollen nicht losgelöst von ihren jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen betrachtet werden, das heißt ihre schriftsprachlichen Fertigkeiten werden mit verschiedenen kulturellen Kontexten und Umgangsformen in Verbindung gebracht. Eine solche kulturtheoretische Fassung wird bereits durch die Rede von "illiteracy" befördert, doch scheint es auch noch dann notwendig zu sein, von "functional illiteracy" zu sprechen (vgl. ). Als weiter Begriff wird zunehmend "Literalität" eingeführt. Dies ist zurückzuführen auf internationale Vergleichsstudien, in denen "Literacy" mit "Literalität" oder "Grundquali fikationen" übersetzt wird. Hier ist insbesondere auf die erste internationale Vergleichsstudie von Grundqualifikationen hinzuweisen, den " International Adult Literacy Survey" (IALS). (…) Literalität wird dabei als relatives Konzept verstanden, das erst im Verhältnis zu ökonomischen und gesellschaftlichen Bedürfnissen bedeutsam wird . Da es verschiedene Formen von literaler Benachteiligung gibt -unabhängig von der Verwendung des Attributs "functional illiteracy" oder "illiteracy" -, wird in jedem Fall auf eine wesentliche Relationalität von schriftsprachlichen Schwächen Wert gelegt. Gegenüber universalistischen Ansätzen stellt man fest, dass die jeweils erforderlichen Lese-und Schreibfähigkeiten nur in einem kulturellen Kontext definiert werden können. Welcher Stand von Schriftsprachkompetenz erforderlich ist, damit sie nicht als "mangelhaft" gilt, ist nur unter den Anforderungen der jeweiligen (schriftkulturellen) Umgebung zu definieren. Literalität ist nicht abstrakt und auch keine "feste Größe". Der Analphabetismus ist deshalb als eine kulturabhängige und historisch wandelbare Größe zu definieren . Dies bedeutet, dass die Bezugsgröße -also das, was als persönlicher Nutzen, als gesellschaftliche Erfordernisse, Notwendigkeiten, als Selbstverständliches oder Ähnliches angesehen wird -wie auch die Praxis der sozialen Wahrnehmung selbst einem beständigen historischen Wandel unterliegen (vgl. . Entsprechend vermag es nicht zu verwundern, dass im Jahr 1912 die Zahl der Analphabeten in Deutschland mit 0,01 bis 0,02 Prozent angegeben wurde. Als alphabetisiert galt in dieser Zeit eine Person, die lediglich ihren Namen schreiben können musste. Heute würde ein mündiger Bürger, dessen schriftsprachliche Kenntnisse und Fertigkeiten allein auf die Signierfähigkeit begrenzt sind, wohl kaum als alphabetisiert gelten . In einer Gesellschaft, in der immer mehr Arbeitsplätze eine hohe und eine gut entwickelte Lese-und Schreibkompetenz voraussetzen, steigen die Ansprüche an Literalität. Das Niveau an Lese-und Schreibkompetenz, das heute für die Bewältigung des Arbeitslebens und des Alltags noch ausreicht, kann gegebenenfalls in einigen Jahren schon unzureichend sein -und würde somit in den Bereich des funktionalen Analphabetismus fallen ). Es zeichnete sich in den bisherigen Erörterungen bereits ab, dass die Relationalität von literalen Benachteiligungen eng mit einem soziolinguistischen Verständnis der Schriftsprache verknüpft ist. Allgemein kann man zwischen eher technischen, formallinguistischen und eher soziokulturellen, funktionalen Sichtweisen auf literale Kompetenzen unterscheiden: Der funktionale Ansatz gilt als eine Alternative zur Behandlung der linguistischen . Von formallinguistischer Warte aus gesehen, nimmt man zunächst das symbolische System selbst in den Blick und hält den literalen Gebrauch, das heißt die sozialen Funktionen von Lesen und Schreiben, für variabel. Von funktionaler Warte aus hingegen hält man das Symbolsystem für variabel und konzentriert sich zuerst auf kulturelle Systeme, auf bestimmte soziale Funktionen von Literalität. Während hier von sozialen Konstellationen ausgegangen wird, beispielsweise von einer bestimmten Unternehmenskultur, die sich mannigfacher literaler Formen bedient, wird dort von symbolischen Konstellationen ausgegangen, etwa von einer bestimmten Phonemregel, die sich dann in mannigfachen literalen Praxen äußern kann. In prägnanter Weise erläutert man diesbezüglich: Prospektive Aspekte Beide Ansätze sind komplementäre Darstellungen der "doppelten Artikulation" von Sprache. Sprachen beruhen bekanntlich auf einer Organisation der Form und einer Organisation der Bedeutung. Die Kategorien beider Organisationsformen stehen in meist zufälliger Beziehung zueinander. Eine auf der Organisation der Ausdrucksformen basierende Sprachbeschreibung zersplittert die Bedeutung, und umgekehrt zersplittert die auf der Organisation der Bedeutung basierende Sprachbeschreibung die Form (ebd., Herv. Was die zweite Perspektive, also den funktionalen Ansatz betrifft, so stellt man fest, dass vielen Praktikern der Weg von der Bedeutung zur Form vorteilhafter erscheint als die traditionelle Praxis, Lernprogressionen ausschließlich in formalen Kategorien zu organisieren. (…) Dort geht man nicht von Sprachformen und deren Bedeutungen aus, sondern von einer systematischen Klassifizierung kommunikativer Funktionen und semantischer Konzepte, die in allgemeine und in spezifische unterteilt werden, und befasst sich nur sekundär mit lexikalischen und grammatischen Formen als deren Exponenten (ebd.). Geht es um eine Einschätzung eines Betroffenen, sollte neben den Lese-und Schreibkenntnissen auch die individuelle Lebensgeschichte und die Selbstwahrnehmung berücksichtigt werden ). Die Tendenz, schriftsprachliche Fertigkeiten als "sprachliche Handlungsfähigkeit" (Pana giotopoulou 2001, S. 56) zu begreifen, erhält vor allem von internationaler Seite Impulse. Sie ergibt sich aber auch als Konsequenz einer vorwiegend pädagogischen Betrachtungsweise. In internationaler Hinsicht rezipiert man in Deutschland vor allem die Definitionsvorschläge der UNESCO, die "keinerlei an der Schriftsprache orientierte substanzielle Kennzeichnung" vornehmen, sondern das Phänomen des funktionalen Analphabetismus von partizipatorischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten her bestimmen. So konstatiert man: Die geläufigste und im Kern bis heute faktisch unveränderte Definition des funktionalen Analphabetismus geht auf eine Begriffbestimmung der UNESCO aus dem Jahre 1962 zurück. Dort heißt es, funktionale Analphabeten sind "Menschen, die nicht hinreichend in der Lage sind, (1) an all den zielgerichteten Aktivitäten ihrer Gruppe und Gemeinschaft, bei denen Lesen und Schreiben erforderlich sind, sich zu beteiligen und (2) dies für ihre eigene Entwicklung und die ihrer Gemeinschaft nutzen können" (…). Die Begriffsbestimmung bietet -überraschenderweise -keinerlei an der Schriftsprache orientierte substanzielle Kennzeichnung. Hingegen verweist sie (1) auf eine Grenze, eine gesellschaftliche Mindestanforderung (…). Darüber hinaus deutet die UNESCO-Definition (2) auf Einschränkungen der Persönlichkeitsbildung hin (ebd.). Von nationaler Seite entsprechen der funktionalen Sichtweise langjährige Erfahrungen in der Alphabetisierungsarbeit, denn im Bemühen um möglichst nachhaltige Lernleistung sah man sich mehr und mehr mit einem sozialen Komplex konfrontiert und unterstrich zunehmend eine "kulturell bedingte Benachteiligung" der Kursteilnehmenden, auch deswegen, weil in den "1990er Jahren die Qualität der Alphabetisierungsarbeit in Frage gestellt" (ebd., S. 84) wurde. So entstand von pädagogischer Seite aus ebenfalls die Tendenz, schriftsprachliche Fertigkeiten weniger an einem abstrakten Wissen, als vielmehr an einem wirklichen Können festzumachen. Entsprechend wird in der jüngsten Diskussion weniger von "Analphabeten" als von "Illite raten" gesprochen: "Die Frage heißt danach nicht mehr: Wer kann nicht lesen und schreiben?, sondern: Wie gut können die Menschen lesen und schreiben?" . Heutzutage tritt man dafür ein, literale Benachteiligung in größeren bildungspolitischen und bildungstheoretischen Zusammenhängen zu betrachten. Denn obwohl von internationaler Seite schon längst für eine "Verschiebung des Akzents von den technischen Aspekten des Lesens und Schreibens über die funktionalen hin zu sozialen Gesichtspunkten" ) plädiert wird, findet in Deutschland zu wenig theoretische sowie praktische Beachtung, dass "Schriftsprache (…) wie die gesprochene Sprache, erworben und auch verwendet wird" . In Zukunft will man sich vor allem auf den "Zusammenhang von Schriftsprachkompetenzerwerb und Lernfähigkeit" konzentrieren, damit die Gruppe der Illiteraten nicht mehr nur als schriftlose Minderheit, sondern in einem viel weiteren Sinne als eine "schweigende Minderheit" in den Blickpunkt gerückt wird (vgl. . In diesem Sinne wird herausgestellt, dass der funktionale Analphabetismus nicht als ein isoliertes Problem, sondern ähnlich wie das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit in einen größeren bildungspolitischen Zusammenhang einzuordnen ist . Alphabetisierung zielt auf eine Verbesserung aller Lebensbereiche. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben soll gefördert und die Lebensqualität auch des einzelnen Menschen verbessert werden (vgl. . Mit der Kontextualisierung von schriftsprachlichen Fertigkeiten wird sich abgehoben von einem herkömmlichen Verständnis, wonach Literalität vor allem unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Gebrauchswert zu schätzen ist, nämlich als allgemeines Reflexionsmedium, das es erlaubt, soziale Partizipationsmöglichkeiten und -notwendigkeiten in prinzipieller Weise einzuschätzen. Laut dieser eher traditionellen Betrachtungsweise bedeuten literale Defizite zuerst eine Beeinträchtigung der formalen Reflexionsfähigkeit, unabhängig davon, in welchem Kontext jeweils wie mit Schrift umgegangen wird. Zutreffend bezeichnet man dies als das sogenannte "autonome" Modell von Literalität, demzufolge Lesen und Schreiben grundlegende Vor aussetzungen einer individuellen Aneignung von Wissensbeständen, eines abstrakten und kontextunabhängigen Denkens, eines rationalen und kritischen Bewusstseins sind . Alphabetisierungskampagnen wie Medienschelte betrachten Lesen oft als wertvoll und erstrebenswert, ganz unabhängig davon, was eigentlich gelesen wird. Oder es wird als eine Art neutraler Technik behandelt -als hätte die Vermittlung der entsprechenden Fähig keit nichts damit zu tun, was anschließend gelesen wird: verdummender und brutaler Schund oder Texte, die für ein gutes Leben interessante und wichtige Informationen und Sichtweisen anbieten. Solcherart "Wertefreiheit" hat eine lange und schlechte Tradition in der Wissenschaft der Neuzeit. Seit einigen Jahren wird auch Kreativität wie ein Wert an sich gefördert -ohne Bezug darauf, dass keineswegs jede Erneuerung, Entwicklung oder Erfindung wünschenswert ist . Wie bereits erwähnt, versucht man im deutschen Sprachraum von vornherein den Begriff der Literalität ausschließlich im Sinne eines soziokulturellen Modells von Schriftsprache zu etablieren. Mittlerweile schlägt man sogar vor, zwischen dem griechischdeutschen, tendenziell engeren Begriff "Alphabetismus" und dem lateinisch-englischen, tendenziell weiteren Begriff "literacy" in einer ergänzenden Weise zu unterscheiden. So ließe sich mit dem lateinischen, "auf soziale Praxis hin orientierten Begriff" zum Ausdruck bringen, dass ein technisch einwandfreier Umgang mit Schrift noch keine funktionale Beherrschung derselben garantiert. Entsprechend ließe sich mit dem griechischen Begriff dann darauf hinweisen, dass ein funktionaler Umgang mit Schrift auch dort existieren kann, wo keine oder nur geringe technische Fertigkeiten vorhanden sind: Ein gewisser Analphabetismus bedeutet noch keine Illiteralität. In ergänzender Weise führt man aus, dass Schriftlichkeit oder Literalität die sogenannte "Alphabetisiertheit" voraussetzen. Schriftlichkeit meint das (schrift)sprachliche Handeln der in einer Schriftkultur eingebundenen Individuen. Der Begriff unterstreicht die aktive Teilhabe der Menschen an Schriftlichkeitsprozessen innerhalb der literalen Gesellschaft, in der sie leben (vgl. . In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die deutsche Sprache sehr präzise zwischen Schriftlichkeit und Alphabetisiertheit unterscheidet. In der englischsprachigen Literatur steht der Oberbegriff "literacy" sowohl für Alphabetisiertheit als auch für Schriftlichkeit beziehungsweise Literalität. Begriffliche Unterscheidungsversuche werden jedoch auch im Englischen unternommen. Es wird z. B. von "technical skills of literacy" und von "socio-cultural aspects of literacy" gesprochen (vgl. Panagiotopoulou 2001, S. 5). Mit dem Attribut des "Funktionalen" wird nicht allein das schriftsprachliche Können in gesellschaftlichen Zusammenhängen betont und sich von der Vorstellung eines wissensbasierten, bloß reflexiven Schriftsprachmodells abgewendet. Mit der soziokulturellen Sichtweise kommt zudem ein bestimmtes Verständnis dessen zum Tragen, was man allgemein unter Benachteiligung versteht. Parallel zum gegenwärtigen Paradigma in der Rehabilitationspädagogik versucht man mit dem Leitbegriff des funktionalen Analphabetismus auch der "Gefahr einer Individualisierung des Problems" , S. 64) zu begegnen und literale Benachteiligungen in erster Line kontextbezogen und variabel zu beschreiben. Die Benachteiligung soll nicht aus den gesellschaftlichen Verhältnissen herausgelöst und auf einzelne Individuen kapriziert werden, sondern in Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe beziehungsweise einer allgemeinen Exklusionstendenz begriffen werden. So kritisiert man am Konzept der sogenannten Teilleistungsstörungen, dass in den Teilleistungsansätzen von bestimmten Kindern ausgegangen wird, die unabhängig von schulischen Bedingungen, in denen sie Lesen und Schreiben lernen, Schwierigkeiten entwickeln. Und dies geschieht ganz unabhängig von pädagogischen und didaktischen Bedingungen, unter denen der Prozess des Schriftspracherwerbs stattfindet, und auch unabhängig von der Auseinandersetzung des jeweiligen Kindes mit diesen Bedingungen. Es handelt sich dann nicht nur um die Suche nach "Risiko-Faktoren", sondern auch um die Suche nach "Risiko-Kindern". In diesem Zusammenhang wurde angemerkt, dass im Rahmen der aktuellen Ursachenforschung die Schule sogar schon vor der Schule entlastet werde, indem einzelne Kinder als "Defekt-Träger" begriffen werden (vgl. ebd., S. 105 f.). Die individuellen Faktoren sollen nicht nur das schulische Versagen und den Analphabetismus erklären. Darüber hinaus soll erklärt werden, warum nicht alle Kinder der "sozialen Grundschicht" in der Schule versagen und warum nicht alle Kinder einer Familie aus schlechten sozioökonomischen Verhältnissen und aus einem schriftentfernten Milieu Analphabeten werden (vgl. ebd., S. 117). Im Sinne einer allgemeinen "Revision paradigmatischer Annahmen in der Behindertenpädagogik" , die die sogenannte "defektologische Orientierung (…) zugunsten einer sozialaktiven Einstellung revidiert" (ebd., S. 59) hat, versucht man auch literale Benachteiligungen an gesellschaftliche Kontexte zu binden beziehungsweise die Handlungspotenz der sogenannten Betroffenen zu unterstreichen. Also auch in dieser Hinsicht bezieht man sich auf den Kontext, der sich auf "pädagogische, außerschulische, familiäre und soziale Kontexte von Literalität bezieht" . Der Analphabetismus und seine komplementären Begriffe sind soziohistorisch also relativ und soziopolitisch aufgeladen. Die soziale Bedeutung von Lesen-und Schreibenkönnen beziehungsweise auch -nichtkönnen ist folglich nicht gleichzusetzen mit der individuellen Schriftsprachfähigkeit (vgl. . In diesem Verständnis steht der Analphabetismus nicht für Mängel oder Defekte der Betroffenen, sondern umfasst eine komplexe, soziokulturell bedingte . Man fasst den funktionalen Analphabetismus folglich als sogenannte "soziale Behinderung auf, d. h. die Betroffenen entsprechen nicht den gesellschaftlichen . Und bei den Betroffenen handelt es sich wortwörtlich "weniger um Menschen, die behindert sind, als vielmehr um solche, die aus den verschiedenen Gründen behindert wurden" (Huck / Schäfer 1991, S. 32). Gleichermaßen ist es zurzeit ein rehabilitationspädagogischer Gemeinplatz, dass eine Daher fordert man eine Abkehr vom medizinischen und statisch gedachten Begriff der Behinderung. Stattdessen wird Behinderung als ein Ergebnis sprachlich vermittelter Zuschreibung und als Prozess gefährdeter Identitätsbildung begriffen . Entsprechend stellt auch der Analphabetismus eine soziale Behinderung dar, denn Analphabeten entsprechen nicht den gesellschaftlichen Minimalanforderungen. Sichtbar wird das vor allem in Situationen, in denen Lesen und Schreiben erforderlich sind -man denke beispielsweise an die Arbeitssuche (Formulare ausfüllen, Bewerbungen schreiben), den Arbeitsplatz (Lieferzettel ausfüllen, Stundenzettel schreiben, Reparaturzettel erstellen, Gespräche mit Kolleg / inn / en über Artikel), an Einkäufe, Kinobesuche, Essengehen etc. . Man beschreibt den funktionalen Analphabetismus nicht nur in bestimmten Kontexten, entfaltet ihn in vielfältigen Äußerungen, sondern versucht zudem, ihn aus verschiedenen Kontexten herzuleiten. Die Bedeutungsoffenheit dessen, was man unter einem literalen Kontext versteht, ergibt sich auch mit Blick auf die Ursachen. Diesbezüglich spricht man von einem sogenannten "multikausalen Zusammenhang verschiedenster Faktoren" . Diverse Untersuchungen zur Frage des Entstehens von Illiterität hatten zum Ergebnis, dass "es den typischen Weg in die Illiteralität nicht gibt. In der Regel sind weder isolierbare Faktoren noch Einzelerlebnisse auslösend" . Zunehmend lässt sich feststellen, dass gravierende literale Schwächen aus diversen äußeren Benachteiligungen resultieren können, was ihre pädagogische Bedeutung relativiert, da sie weniger schwerwiegende Folgen haben, als vielmehr selbst aus gravierender Benachteiligung folgen. Die Entwicklung des funktionalen Analphabetismus scheint dann durch ein weitverzweigtes Netz dysfunktionaler Kontexte, etwa durch eine "desolate soziökonomische Situation" Literale Benachteiligung wird durch ihre Ableitungen aus multifaktoriellen Kontexten offensichtlich weitgehend entproblematisiert: Zum einen ist sie selbst nicht das wesentliche Problem, zum zweiten variiert sie mit den gesellschaftlichen Feldern und zum dritten ist ihr Entstehen wegen der komplexen Abhängigkeitsverhältnisse ebenso möglich wie ihr Ausbleiben, was schließlich also auch bedeuten kann, dass sie kontextübergreifend gar nicht zu behaupten ist. Sie scheint an bestimmte Kontexte und die dort herrschenden Verhältnisse gebunden zu sein. Zum Beispiel steht nach wie vor infrage, ob familiären Kontexten, insbesondere der Einfluss einer sogenannten "Leidensbiographie der Eltern" Dem lässt sich entgegenhalten, dass immer wieder auch ungünstige familiäre Bedingungen, unter denen die heutigen Analphabeten aufwuchsen, als sehr wichtige Faktoren schulischer Leistungsentwicklung hervorgehoben worden sind. Fast in jeder Biographie eines Analphabeten finden sich ungünstige Faktoren wie hohe Kinderzahl, räumliche Enge, finanzielle Misere, Kinderarbeit, Alkoholismus usw. Aufgrund einer schlechten sozialen Lage können Kinder mit Lernschwierigkeiten und sogar mit Nichtlernen reagieren (vgl. . Mit einem eher objektiven Begriff von "literaler Benachteiligung" wird sich in jedem Fall von psychologischen Ansätzen abgekehrt. Das Gleiche gilt von Ansätzen, die in erster Linie die betreffenden Personen selbst in der Verantwortung sehen und damit tendenziell pathologisieren. Literale Benachteiligung soll nicht mit einzelnen Individuen, sondern mit ihren gesellschaftlichen Umständen, mit ihren sozialen Konstellationen in Verbindung gebracht werden. Die Individuen erscheinen dann weniger befangen als vielmehr betroffen, nämlich von einer Literalität, die gesellschaftliche Verhältnisse weniger überschreitet als vielmehr repräsentiert. In diesem Sinne heißt es, dass in einer Gesellschaft, die über eine Schriftkultur verfügt, die Behauptung, dass Menschen sich "freiwillig" soziokulturell ausgliedern, nicht überzeugend sein kann (vgl. Panagiotopoulou 2001, S. 79 f.). Unterdessen aber wird von empirischer Seite festgehalten, dass die Frage, ob der funktionale Analphabetismus in erster Linie von individuellen Defiziten oder von sozialen beziehungsweise gesellschaftlichen Gegebenheiten verursacht wird, noch ungeklärt ist . Wird überdies die Relationalität von literalen Ansprüchen geltend gemacht, lässt sich die objektive, das Individuum selbst entlastende Perspektive auch derart zuspitzen, dass an eine pädagogische Fürsorge kaum noch zu denken ist. Anzunehmen sind in dem Fall dann bloß noch mannigfache literale Anforderungen in einer wiederum mannigfach differenzierten Gesellschaft, welche sich eben aus mannigfach verschiedenen Individuen zusammensetzt. Auf diese Weise unterstellt man den Individuen keine generellen literalen Defizite, sondern verteilt sie bloß auf unterschiedliche, jeweils berechtigte literale Funktionsfelder. Von pädagogischer Warte aus und insbesondere unter dem demokra tischen Gesichtspunkt bürgerlicher Gleichheit wiederum kann die Abwendung von pathologischen Auffassungen letztlich zu einem rein technischen Verständnis von Illiteralität führen, zu einem formal und eng gehaltenen Begriff von literaler Benachteiligung, bei gleichzeitiger Betonung von anderen persönlichen, kommunikativen oder sozialen Benachteiligungen. So lässt sich rückblickend zusammenfassen: Die eine Position sah im Extremfall die Illiteraten als Menschen, die sich in nichts von anderen unterscheiden, die über sämtliche -auch kommunikativen und sprachlichen -Fähigkeiten genau so verfügten wie andere auch -mit der einen Ausnahme der schrift- Nun gilt es zu bedenken, dass individuelle Zuschreibungen von literalen Schwächen durchaus Handlungsmöglichkeiten eröffnen können, nämlich insoweit, als die betreffenden Personen in der Lage sind, sich ihrer Befindlichkeit zu bemächtigen. Solange keine unheilbaren Persönlichkeitsstörungen unterstellt werden, kann es für Benachteiligte durchaus motivierend sein, davon auszugehen, nicht in komplexe äußere Ab-hängigkeiten verstrickt zu sein. Umgekehrt muss ein objektiver Begriff von literaler Benachteiligung die davon betroffenen Personen auch nicht unbedingt entlasten, sondern er birgt die Gefahr, sie in ein dichtes Geflecht äußerer Widrigkeiten zu verstricken und mithin einer individuellen Ohnmacht gegenüber sozialen Konstrukten das Wort zu reden. Auf den ersten Blick macht es den Eindruck, als würde das Phänomen des funktionalen Analphabetismus durch eine soziolinguistische und objektive Fassung eine theoretische und praktische Aufwertung erfahren. Schließlich zeigt man damit an, dass die literale Benachteiligung von Erwachsenen stets an gesellschaftliche Umstände geknüpft ist, dass die Betroffenen nicht nur etwas nicht wissen und können, sondern dass dieses Nichtwissen und Nichtkönnen innerhalb von schriftsprachlich geprägten Gesellschaften auch Konsequenzen hat, also dass funktionale Analphabeten vom sozialen Leben maßgeblich ausgeschlossen sind oder eben davon ausgeschlossen werden. Mit dem soziolinguistischen Paradigma korrespondiert zumeist auch die Annahme, dass herrschende gesellschaftliche Verhältnisse literal durchdrungen sind. Den sozialen Umgangsformen der Literalität entspricht in dem Fall dann die literale Prägung der Sozialität. In diese Richtung zielt man auch von pädagogischer Warte aus, denn die Kontextualisierung des Analphabetismus "basiert (…) auf Erfahrungen und Beobachtungen im Rahmen der Alphabetisierungspraxis" ). Der funktionale Analphabetismus wird hier nicht nur als eine Teilleistungsstörung, sondern vielmehr als ein zentraler Gegenstand von "Grundbildung" betrachtet. Wie nun hinter der funktionalen Fassung von Literalität eine bestimmte linguistische Theorie und hinter der Annahme literal geprägter Sozialität eine bestimmte soziologische Theorie steht, so steht auch hinter der Alphabetisierung im Rahmen von Grundbildung eine bestimmte Auffassung von Bildung. Dass aber diese dreifache Dimensionierung der Illiteralität mit komplexen Gesellschafts-und Bildungsprozessen nicht unbedingt eine theoretische und praktische Aufwertung zur Folge haben muss, sondern auch zu ihrer Marginalisierung führen kann, lässt sich jetzt, in Ergänzung bisheriger Ausführungen, nur mehr in pädagogischer Hinsicht anreißen. Vor allem angesichts allgemeiner Kompetenzmessungen sowie der Rede vom "lifelong learning" ist darauf aufmerksam zu machen, dass das Phänomen des funktionalen Analphabetismus zu einem randständigen Fall eines allgemeinen Bildungsnotstands zu werden droht. Was die Implikationen des zur Rede stehenden Bildungsbegriffs anbelangt, so verbindet man mit ihm herkömmlich nicht nur gesellschaftlichen Nutzen, sondern stets auch individuelle Integrität. Prozesse der Bildung finden nicht nur auf gesellschaftliches Geheiß, sondern wesentlich auch auf Betreiben des Einzelnen hin statt. Überdies setzt Bildung beide Aspekte, ein nützliches und integres Vermögen, in gewisser Weise immer schon voraus, denn es wird bereits während der Erziehungszeit dafür gesorgt, dass die Heranwachsenden ein für Bildungsprozesse notwendiges Wissen, Können und Selbstvertrauen entwickeln: "Erzogen" werden vor allem Kinder und "gebildet" werden vor allem Erwachsene. Mit der Rede von "Grundbildung" wird momentan versucht, darauf hinzuweisen, dass Bildungsprozesse im Erwachsenenalter durchaus voraussetzungsvoll sind. Lernund Erfahrungsprozesse sind demzufolge mitnichten immer möglich, sondern erst dann, wenn ein bestimmtes Grundniveau an Wissen, Können und Integrität erreicht ist. Einerseits also tendiert die Rede von einer Grundbildung zu einer herkömmlichen Bedeutung von Erziehung und folglich auch zu einer Infantilisierung der Erwachsenen, anderseits weist sie zu Recht darauf hin, dass nicht einfach von gelungenen Erziehungsprozessen oder bestehenden Bildungsmöglichkeiten auszugehen ist und rückt somit die Unzulänglichkeiten von Erziehung und die Bedingtheit von Bildung in den Blick. Was speziell die Alphabetisierungsarbeit im Rahmen von Grundbildung betrifft, so verbindet sich hiermit der Anspruch, nicht bloß technische Fertigkeiten zu vermitteln, sondern darüber hinaus soziale und persönliche Kompetenzen auszubilden. Es geht um die Verfolgung von vielfältigen Bildungszielen, die sich mit Literalität in Verbindung bringen lassen. Gemäß des soziolinguistischen Paradigmas beziehungsweise der Annahme von literal geprägten Sozialverhältnissen begreift man den funktionalen Analphabetismus als ausgreifende soziokulturell bedingte Benachteiligung (vgl. Panagiotopoulou 2001, S. 87). Vor allem pädagogische Praktiker haben erkannt, dass Festzuhalten ist weiterhin, dass der Mangel an Schriftlichkeit beziehungsweise der fehlende Zugang zur Schriftkultur zur "Sprachlosigkeit" im Rahmen einer schriftlichen Gesellschaft führen kann und als eine soziokulturell bedingte Benachteilung beziehungsweise "Behinderung" zu interpretieren ist (vgl. ebd., S. 87). Eine treffliche Verbindung von Illiteralität und mangelnder Grundbildung ist aber kein Garant dafür, dass jene in Theorie und Praxis mehr zur Geltung kommt; eine solche Tragweite kann auch dazu führen, dass der funktionale Analphabetismus nur am Rand von großen gesamtgesellschaftlichen Bildungsbedürfnissen, sozusagen als Fuß-note breit angelegter Kompetenzmessungen, erscheint. Auch wenn man sich von der soziolinguistischen und bildungstheoretischen Perspektiverweiterung eine angemessenere Würdigung und Behandlung der Illiteralität verspricht, und auch bei aller Berechtigung, die Betroffene haben, in ihrer sozialen und persönlichen Komplexität ernst genommen zu werden, man riskiert doch, geradezu das Gegenteil zu erreichen, indem man die betreffenden Menschen angesichts der allgemeinen Bildungsbandbreite noch rudimentärer und ärmer beschreibt als zuvor. Durchaus erst weil davon gesprochen wird, wie viele Kompetenzen sich mit Literalität verbinden und was ohne Schrift im öffentlichen und privaten Leben eigentlich alles schlecht oder gar nicht funktionieren kann, erscheinen die Probleme, mit denen illiterate Menschen zu kämpfen haben, richtig kompliziert und dramatisch. Nur ansatzweise findet man bislang kommuniziert, dass eine soziolinguistische und bildungstheoretische Fassung der Illiteralität nicht unbedingt zum pädagogischen Vorteil gereichen muss. In politischer Hinsicht immerhin gibt man etwa zu bedenken: Die wohl beträchtliche Man gelangt dann, methodisch gewendet, zu dem Problem, dass die Bedeutung der Schriftsprachkompetenz zunimmt, wenngleich ihr Vorhandensein oder Wirken nicht durch das Vorhandensein an Wissensbeständen abgefragt werden kann. Bei der Messung von Min-destnormen muss eine Möglichkeit gefunden werden, dies in empirisch nachprüfbarer Weise zu erledigen, um valide Ergebnisse zu erhalten . Allerdings muss der Bezug zu soziolinguistischen Modellen im Namen von "illiteracy" oder zu pädagogischen Vorstellungen von sogenannter "Bildungsarmut" nicht unbedingt zu einer Marginalisierung des funktionalen Analphabetismus führen. Wie bereits ausgeführt, kann es in seinem Namen und in der gleichen Logik auch zu einer nicht minder unangemessenen Konzentration an soziokultureller Inkompetenz oder Ungebildetheit kommen. Der Zusammenhang von sozialer und persönlicher Misere wird in dem Fall quasi vom Rand aus gedacht, die literale Benachteiligung erscheint nun als eine prekäre Schnittstelle beziehungsweise als pädagogische Schaltstelle, von der persönliche, soziale und ökonomische Entwicklungen maßgeblich abhängen. Obwohl funktionale Analphabeten kaum sozial e Schnittmengen bilden, betrachtet man sie insgesamt als ein sogenanntes "Prekariat" und stellt allgemein auf eine zunehmende literale Strukturierung der Welt-und Zwar kann der Analphabet weder lesen noch schreiben. Aber auch wenn er es nicht kann, so nimmt der dennoch rezeptiv wie produktiv an der Kultur seiner Zeit teil. Er ist dabei keineswegs notwendig auf die volkstümlichen und mündlichen Überlieferungen von Liedern, Sagen, Märchen usw. beschränkt. Er kann z. B. durch Diktat von Texten, durch Anhören eines Vorlesers, durch Halten einer Rede oder Teilnahme an Schauspielen usw. auch an den modernen und komplizierten Formen der allgemeinen Literatur und sogar der Spezialliteratur teilhaben (vgl. ebd., S. X f.). Zusammenfassend kann man hier festhalten, dass soziolinguistische und bildungstheoretische Perspektiverweiterungen das Risiko bergen, das Phänomen des funktionalen Analphabetismus angesichts mannigfacher Missstände zu marginalisieren. Beide unverhältnismäßigen Theoriezüge lassen sich in den gegenwärtigen Debatten ausmachen. So betont man etwa die Dringlichkeit von Alphabetisierungsmaßnahmen und verweist zugleich auf "large scale assessments", in denen gravierende literale Schwächen allenfalls am Rande erhoben werden. Oder es werden mit Literalität immer mehr Kompetenzen verbunden, die die Benachteiligungen der Betroffenen dann in den Hintergrund rücken. Benennen Sie mögliche Ursachen, die zur Entstehung des funktionalen Analphabetismus führen können. Ist ein funktionaler Analphabet zugleich "sozial behindert"? Ist eine derartige soziale Etikettierung aus erwachsenenpädagogischer Sicht haltbar? Welcher Begriff von Bildung wird hier verwendet? Wie verhält sich der Begriff "Grundbildung" zum klassischen Bildungsbegriff? 3. Qualitative Aspekte Um nach der Größenordnung des funktionalen Analphabetismus fragen zu können, ist es notwendig, möglichst präzise Definitionen zu erarbeiten. Die Identifikation der Zielgruppe ist dabei von außerordentlicher Relevanz: Wie im Vorherigen schon erörtert, lassen sich grob zwei Bestimmungsarten unterscheiden: ein eher funktional zu nennender Ansatz schlägt sich bereits im Zugangsbegriff nieder, und ein eher formallinguistischer Ansatz steht dem gegenüber. Während in jener Perspektive die Schriftsprache hauptsächlich als Kommunikationsform analysiert und vorwiegend als mentale Struktur in Erwägung gezogen wird, erschließt man die Schriftsprache in funktionaler Weise vor allem über ihre Bedeutungsebene und verknüpft sie mit Handlungs-und Interaktionsaspekten. Allerdings sind die Übergänge zwischen soziokulturellen und textlichen Bedeutungen fließend. Die schriftsprachlichen Semantiken und Formen existieren nicht unabhängig von ihrem Gebrauch und die Verwendungsweisen von Texten oder Subtexten sind wiederum nicht unabhängig von ihren formellen und semantischen Strukturen. Im Gegensatz zum formallinguistischen Verständnis von Literalität, das auf schriftsprachliche Prinzipien abhebt, bemüht man sich in der funktionalen Perspektive um die Berücksichtigung einer Mannigfaltigkeit von schriftsprachlichen Praxen. Schriftsprache funktioniert demnach in verschiedenen praktischen Zusammenhängen jeweils anders, in den heterogenen literalen Bedeutungen spiegelt sich die Heterogenität der gesellschaft lichen Verhältnisse. Allerdings erschwert der variable, soziale Sinn eine empirische Erforschung der literalen Funktionen, insbesondere eine Messung von Illiteralität. Wenn in literaler Hinsicht etwas nicht funktioniert, so liegt dies nicht zuletzt an ei-ner nur partiell einzuholenden "Eigendynamik" kommunikativer Prozesse. Man kann sich dem Phänomen des funktionalen Analphabetismus folglich nur kontextbezogen und tendenziell kleinteilig nähern, seine Ausprägungen scheinen von den jeweiligen sozialen Kontexten abhängig und durch individuell erlebte Ausgrenzung bestimmt zu sein. Aufgrund der Heterogenität individueller Erfahrungen und gesellschaftlicher Ansprüche sucht man nach den Erscheinungsformen eines "empirisch unscharfen Phänomens" . Ob nun in qualitativer oder quantitativer Hinsicht bleibt dahingestellt -im Sinne des funktionalen Ansatzes hat man davon auszugehen, dass die Spannbreite zwischen den verschiedenen Kenntnissen und Fertigkeiten oft sehr groß ist. Die Übergänge sind fließend, klare Abgrenzungen zu finden ist schwierig (vgl. . Und ausführlich wird gefragt: Derweil das formallinguistische Schriftsprachmodell auf allgemeine Prinzipien hinauszulaufen scheint, wird die Schriftsprache im Sinne des funktionalen Modells in unzähligen gesellschaftlichen Zusammenhängen betrachtet, sodass die literale Form sozusagen "zersplittert" wird. Hierdurch werden unzählige individuelle Freiräume behauptet. Beide Schriftsprachmodelle verknüpfen sich jedoch mit gesellschaftlichen Vorstellungen: In funktionaler Perspektive muss die Gesellschaft nicht erst anhand eines sprachlichen Systems individualisiert werden, das sprachliche System scheint sich immer schon in gesellschaftlichen Feldern zu individualisieren. Und im Gegensatz zum sogenannten autonomen Schriftsprachmodell steht hier weniger die Heterogenität als vielmehr die Homogenität der Gesellschaft infrage. Man setzt keine geschlossene Gesellschaft voraus, man kennt keinen Zusammenhang, der literal irgendwie zu überschreiten wäre, stattdessen geht man von einer offenen Gesellschaft aus, die auch literal heterogen organisiert ist. Der Beobachtung entziehen sich weniger die gesellschaftlichen Individualisierungsformen als vielmehr die gesellschaftlichen Organisationsformen. Denn verschiedene Funktionen werden von verschiedene Personen in verschiedener Weise erfüllt oder eben nicht erfüllt. Darum hat auch der Begriff des funktionalen Analphabetismus keine soziale Gruppe zum Gegenstand. Aus verschiedenen sozialen Funktionsbereichen resultieren unterschiedliche literale Benachteiligungen, die von einem Betroffenen zum nächsten verschieden ausgeprägt sind. Funktionale Analphabeten organisieren sich am ehesten in Alphabetisierungskursen, wo sie als Lernende für eine Weile eine soziale Schnittmenge bilden. Doch darüber hinaus bleibt jener Begriff abstrakt und fungiert eher als Folie zur Erfassung von Individuen, die ganz unterschiedlich organisiert sind. Man ist sich durchaus bewusst: Der Diskurs um literale Benachteiligung ist unterdessen wesentlich von der Wahrnehmung verbindender Funktionszusammenhänge sowie entsprechend breit ausgeschlossener Personengruppen strukturiert, also von Aspekten, die sich nicht ohne Weiteres mit der Annahme von pluralen und dynamischen Gesellschaftsverhältnissen vereinbaren lassen. Dem auf empirische Differenzierung setzenden funktionalen Schriftsprachmodell scheint es tendenziell zu widersprechen, wenn über spezifische Ort-und Zeitpunkte hinweg soziale Einheiten und Ausschlüsse identifiziert werden. Je umfassender und abstrakter man nämlich derartige Inklusions-und Exklusionszusammenhänge annimmt, umso weniger lassen sie sich empirisch oder praktisch wenden. Man fordert daher im Allgemeinen eine Dabei stimmen die von den verschiedenen Alphabetisierungsbewegungen in den industrialisierten Ländern entwickelten Vorstellungen von der Zielgruppe nur darin überein, dass Analphabeten zu Alphabetisierten, die illiteraten zu literaten Menschen werden sollen (vgl. . Es ist in erster Line eine (sozial)pädagogische Perspektive, die den funktionalen Analphabetismus -bei aller "auf der Organisation der Bedeutung basierenden Sprachbeschreibung" und der damit einhergehenden Vervielfältigung literaler Niveaus -in sozialen Zusammenhängen begreifbar macht. Was heterogene soziale Kontexte und Personenmerkmale zusammenhält, scheint die gravierende Hilfsbedürftigkeit der Betroffenen zu sein. Mit den funktionalen Analphabeten hat man eine "neue prekäre Unterklasse" in den Blick genommen und ist dementsprechend auch entschlossen zu helfen. Angesichts herrschender literaler Verhältnisse scheinen diese betroffenen Menschen im übertragenen Sinne "keine Adresse" (ebd., S. 30) zu haben, sie kommen im literalen Verkehr nicht vor und haben sich daran gewöhnt, übergangen zu werden. Im Unterschied zur infantilen Illiteralität sind die erwachsenen Analphabeten von beträchtlicher Ausgrenzung und Stigmatisierung betroffen und diese "soziale Ächtung" hat zur Folge, dass sie lediglich ein geringes Selbstwertgefühl entwickeln können. Entsprechend wird konstatiert, dass unzureichende Schriftfähigkeit oft "subjektiv vielfältiges Leid und objektiv Exklusion" (Schlutz 2007, S. 18) nach sich zieht. Schwerwiegend sind vor allem die beruflichen Konsequenzen: die geringe Qualifikationsstruktur der ausgeübten Tätigkeiten, der deutlich höhere Anteil von Arbeitslosigkeit und das wesentlich geringere Einkommen (vgl. . Die derzeit inflationäre Rede vom funktionalen Analphabetismus ist, wie bereits ausgeführt, maßgeblich bestimmt durch ein objektives Verständnis von literaler Benachteiligung. Dies kann nicht zuletzt an der zunehmenden Verwendung des Begriffs "Exklusion" abgelesen werden, denn mit diesem Begriff wird oftmals versucht, die soziale Produktion von Benachteiligung zu gewichten. Nicht bei den Betroffenen selbst, sondern in ihren sozialen Umfeldern wird nach Ursachen für literale Inkompetenz gesucht, so wird etwa die Schule zu einem "Einsortierplatz und zur Armutsfalle" (ebd., S. 36). Entsprechend bleibt festzuhalten: Die Betroffenen sollen die Verantwortung für ihre missliche Lage nicht selbst übernehmen, diese soll aus dem gesellschaftlichen Verkehr und den damit einhergehenden Ausgrenzungsprozessen resultieren. Funktionale Analphabeten sind demnach Leidtragende und nicht bloß von schriftsprachlichen Exklusionen betroffen -diese greifen im engeren Sinne, gemäß dem soziolinguistischen Modell von Literalität, auch auf andere öffentliche und private Bereiche über. Da die Schriftsprache kein abstraktes Symbolsystem ist, sondern seit jeher im sozialen Leben verwendet wird, leiden die funktionalen Analphabeten nicht bloß an grammatikalischen, orthographischen oder phonologischen Ansprüchen, sondern darüber hinaus an finanziellen und sozialen Missständen, was natürlich auch ihre Persönlichkeitsentwicklung nicht unberührt lassen kann. Mitsamt dem technischen Wissen und Können scheint es illiteraten Menschen an Grundbildung zu fehlen, und fehlende Grundbildung bedingt soziale und finanzielle Probleme, welche wiederum Bildungswege abkürzen und so weiter und so fort. Doch ob nun mehr als Ursache oder als Konsequenz verstanden, im Zuge der Konzentration auf phänomenale Dimensionen von literaler Benachteiligung wird diese tendenziell mit einer "Zugehörigkeit zu bildungsfernen Milieus" identifiziert. In positiver Weise impliziert die Verschränkung von Alphabetisierung und Grundbildung, dass mit Literalität zugleich Bildungskapital gewonnen ist; angesichts von Illiteralität jedoch resultiert daraus auch eine Entwertung des Bildungskapitals. Untersuchungen zu Biographien der Betroffenen zeigen, daß unter heutigen Bedingungen der Analphabetismus sehr viel mehr ist als "eine fehlende Fertigkeit". Es ist -so könnte man sagen -eher die eingeschränkte (schrift)sprachliche Handlungsfähigkeit der Betroffenen und somit ihre langjährige soziokulturelle und kommunikative Ausgliederung, die dieses Phänomen zu einem richtigen Problem macht . Indem literale Schwächen als ausgreifendes Bildungsproblem gewürdigt werden, lässt man sich auf eine persönliche Dimension von Betroffenheit ein und eröffnet dann zum Beispiel das erwähnte "Problem der Adressabilität" . Ein Mensch, gehalten von sozialen Netzwerken und finanziell abgesichert, muss -selbst in einem literal geprägten Kulturkreis -aufgrund von gravierenden literalen Schwächen nicht unbedingt zu einem "fragilen Selbstbild" neigen. Hingegen dürfte es ein wegen grundsätzlicher "Bildungsarmut" ) sozial isolierter und finanziell bedrängter Mensch recht schwer haben, in seiner persönlichen Entwicklung eine -wie es in der qualitativen Forschung heißt -negative "Verlaufkurve" abzuwenden. Man geht bei funktionalen Analphabeten daher von einer "Kontinuität (…) im Prozeß des Erleidens" (ebd., S. 120) aus und verbindet ihre literale Desintegration mit einer persönlichen Desintegration, auch ihr innerliches Zuhause ist anscheinend ein recht "unwirtlicher Ort" . Man möchte dennoch keinem organisch bestimmten Analphabetismus das Wort reden und erklärt, funktionaler Analphabetismus sei weder ein Defekt noch eine unheilbare Krankheit. Funktionaler Analphabetismus ist die Folge erlernter Lernverweigerung. Sie beruht vielmehr auf dem Phänomen misslungener Adressabilität (vgl. ebd., S. 33). Erwachsene in Industrieländern haben in der Regel bereits Erfahrungen mit dem Erlernen von Lesen und Schreiben gemacht. Aber nicht in jedem Fall war das Lernen von Erfolg gekrönt. Der Misserfolg zieht weitere Versagensängste nach sich und kann zu einer im Grundsatz misstrauischen und sogar ablehnenden Haltung gegenüber Bildungsinstitutionen führen. Die Art und Weise, wie diese Menschen gelernt haben und wie sie lernen, wirkt sich dann wie ein retardierendes Element in weiteren Lern-und Entwicklungsprozessen aus (vgl. . Mitunter behandelt man die affektiven Spannungen von funktionalen Analphabeten sogar als Ursache ihrer literalen Benachteiligung. Die Genese von Analphabetismus muss als eine tief in die Biographie der Betroffenen verankerte lebensgeschichtliche Entwicklung verstanden werden, deren Komplexität sich monokausalen Erklärungsversuchen entzieht (vgl. . So entdeckte man in den Lebensgeschichten dieser Menschen häufig ausgesprochen unangenehme Ereignisse. Diese haben zwar nicht zwingend mit dem Lese-und Schreibproblem zu tun. Sicher haben sie aber einen Einfluss auf die Entwicklung der eigenen Identität und auf das Selbstvertrauen. Dies kann sich dann wiederum auf den Umgang mit den Kulturtechniken Lesen und Schreiben auswirken (vgl. . Meist aber wird ihre Persönlichkeitsstörung, das heißt ihr Leiden an einer "typischen Konstellation von Anonymitätsbedürfnis und Stigmatisierungsangst" , als eine sich selbst verstärkende Wirkung ihrer literalen Benachteiligung gedeutet und damit die "Individualisierung des Problems" entschärft. Wegen den beschränkten Partizipationsmöglichkeiten am literalen Verkehr kommt es wohl fortwährend zur "Erfahrung, eine unwichtige Adresse zu sein" (Hannich u. a. 2006, S. 29) -ein Umstand, dessen prägende Wirkung offenbar nicht lange auf sich warten lässt. In der Folge eines negativen "Etikettierungsprozesses" (ebd., S. 30) entwickeln sich stetige affektive Spannungen und persönliche Niederschläge der literalen Benachteiligung. So behauptet man: Unbestritten ist, daß "funktionale Analphabeten" extremen Leidensprozessen ausgesetzt waren oder noch immer sind, die sowohl einen Lese-und Schreibprozeß verhindert als auch zu einem negativen Selbstbild und zu einem unterentwickelten Selbstbewußtsein geführt haben. Ebenso wenig ist von der Hand zu weisen, daß fehlende oder unzureichende Lese-und Schreibkenntnisse zu einer großen Beeinträchtigung der gesamten Lebenssituation führen ). Dabei ist die Gefahr, dass unzureichende Schriftsprachkenntnisse eine negative Verlaufskurve in Gang halten, im Grunde bei allen Menschen mit Lese-und Schreibproblemen vorhanden: etwa dann, wenn nach einer Entlassung eine Neueinstellung an mangelhaften Schriftsprachdefiziten scheitert (vgl. ebd., S. 122). Allerdings gibt es erstaunlicherweise ebenfalls Menschen, die ihren Arbeitsplatz wechseln, sobald eine Beförderung, die Schriftsprachkompetenz zur Voraussetzung hat, in Aussicht gestellt wird (vgl. ebd., S. 168 f.). Aufgrund der durch Schriftsprachdefizite verursachten, öffentlichen und privaten Benachteiligungen stellt sich die Frage, weshalb nur ein kleiner Teil an funktionalen Analphabeten sich motiviert zeigt, öffentliche Alphabetisierungsangebote zu nutzen. Man erklärt diesbezüglich "multifaktoriell": Mit einer beträchtlichen Dunkelziffer muss gerechnet werden wegen unzugänglicher Angebote (sei es aus finanziellen, didaktischen oder räumlichen und zeitlichen Gründen), wegen verbreiteter Resignation seitens der Betroffenen und aufgrund ihrer ausgeprägten Schamgefühle, einer für sie typischen "Angst vor Entdeckung" . Es gibt verschiedene Vermutungen, warum funktionale Analphabeten nicht auf die entsprechenden Angebote von Erwachsenenbildungseinrichtungen reagieren. Schlechte Zugänglichkeit zu Informationen und Unterrichtsangeboten sowie die empfundene Diskrepanz zwischen subjektivem Aufwand und Nutzen sowie eine allgemein fehlende Motivation gelten als Hauptursachen für Nichtbeteiligung. Darüber hinaus werden inzwischen auch von Volkshochschulen immer wieder Teilnahmegebühren für Angebote der Alphabetisierung und Grundbildung erhoben, sodass die finanziell zumeist schlecht gestellte Zielgruppe abgeschreckt wird (vgl. . Jedoch scheinen sich die Beobachtungen des persönlichen Leidens zu relativieren, es ist nicht unbedingt mit schamhaften Gefühlen zu rechnen. Auf den zweiten Blick sind die "Berichte der Betroffenen über ihre Bedarfe in der Regel weniger alarmierend als die Testergebnisse" (Ivanic / Barton / Hamilton 2004, S. 20). Etwa sieht man funktionale Analphabeten mit "ausgeprägten Leidensbiographien und andere, die sich dem Leidensprozeß haben entziehen können und sich im Leben ‚arrangiert' haben" . Ausgehend von diesem Arrangement oder gar Engagement wird gewarnt, dass erwachsene Illiteraten nicht behindert sind und sich auch nicht so verstehen. Vielmehr haben sie eine Vielzahl von Kompetenzen und Fähigkeiten erworben, die ihre Lese-und Schreibschwäche teilweise zu kompensieren vermögen. Sie können auf eine Lebensleistung verweisen, die Anerkennung verdient . Jedoch wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Personen, die als funktionale Analphabeten gelten, oft die literalen Anforderungen auf ihrer Arbeit völlig zufriedenstellend erfüllen konnten. Dies kann beispielsweise durch die Nutzung alternativer Praktiken wie Unterstützungsnetzwerken geschehen, wobei mehrere Personen Aufgaben aufteilen, sodass jede Person tut, was sie am besten kann (vgl. Ivanic / Barton / Hamilton 2004, S. 20). Es scheint sich zu bestätigen: "Illiterate haben wenig Vertrauen in die eigene Lernleistung; einige von ihnen haben jedoch einen ausgeprägten Stolz auf die erreichte Lebensleistung" . Es ist also durchaus strittig, inwieweit beispielsweise phonologische Schwächen mit einer persönlichen Desintegration einhergehen müssen. Im Bestreben, vom "Bild eines bemitleidenswerten, unselbständigen, defizitären Menschen wegzukommen" ) stößt man nicht nur auf viele effektive "Vermeidungsstrategien" (ebd., S. 159), sondern entdeckt auch eine bisher kaum erforschte produktive "Kompensation des Defizits" (ebd., S. 163), eine bei illiteraten Menschen ausgeprägte "Orientierung ohne Schriftsprachkompetenz" (ebd., S. 162). Beispielsweise wird berichtet: Da den Menschen mit Lese-und Schreibproblemen Medien wie Zeitungen oder Bücher zum größten Teil verschlossen bleiben, sind sie gezwungen, Wissen und Kenntnisse auf andere Weise zu erwerben, um beispielsweise in Gesprächen mit Arbeitskollegen mitreden zu können und dabei nicht als "Analphabeten" aufzufallen" (ebd., S. 163). In den weitgehend defizitären Beschreibungszusammenhang will es sich nicht recht fügen, dass man auch heutzutage trotz gravierender literaler Schwächen eine innere Inte-grität bewahren und erfolgreich am gesellschaftlichen Leben partizipieren kann. Herausgestellt wird in dieser Hinsicht jedoch besonders eine mit literaler Benachteiligung korrelierende "erhöhte Merkfähigkeit" (ebd., S. 162) sowie das Bestehen eines "großen solidarischen Freundeskreis" (ebd., S. 163). Anscheinend müssen funktionale Analphabeten ihrer literalen Umwelt nicht zwangsläufig ausgeliefert sein, nicht immer leben sie zurückgezogen und leiden an geringen Selbstwertgefühlen -dies tun sie vielleicht nicht mal tendenziell. So wird aus biographischen Analysen geschlossen: So wurde schon beobachtet, dass z. B. religiöse Gemeinschaft helfen kann, ein Stigma zu bewältigen (vgl. ebd., S. 164). Das mögliche Lebens-und Lernengagement von funktionalen Analphabeten ist auch daran ersichtlich, dass sie sich mitunter freiwillig dazu entschließen, die langwierigen Mühen eines Alphabetisierungskurses auf sich zu nehmen. Also nicht nur in Hinblick auf funktionierende Vermeidungsstrategien und Kompensationen, sondern auch in Hinblick auf eine direkte Überwindung von literalen Barrieren erwecken die bisherigen empirischen Beschreibungen einen recht uneinheitlichen Eindruck und weisen so auf die eingangs festgehaltene heterogene Qualität des funktionalen Analphabetismus zurück. Die bislang erhobenen Selbstbeschreibungen von illiteralen Menschen scheinen zunächst einmal die Vermutung zu bestätigen, dass die nähere Erforschung dieser Personen zur Rede von einem vorhandenen "sozialen Sprengstoff" ) in Deutschland beiträgt. Biographische Rekonstruktionen stützen die Annahme, dass an funktionalem Analphabetismus gelitten wird, dass man davon betroffen ist, also dass das Phänomen kaum in persönlicher Verantwortung steht. Vor allem in pädagogischen Kreisen ist dies Konsens. Man betont in der Regel, dass der funktionale Analphabetismus nicht das Problem "einzelner Versager" ist, sondern ein "kulturpolitisches", ein "soziokulturelles" und ein "gesellschaftliches" Problem. "Die Gefahr einer Individualisierung des Problems ist (…) nicht zu unterschätzen und bleibt noch aktuell" (ebd.). Es stellt sich unterdessen die Frage, ob auch nicht lernende illiterate Menschen in dieser Weise zu beschreiben sind, denn die bisherigen Untersuchungen beziehen sich lediglich auf lernende. Zudem ist fraglich, inwieweit es pädagogischen Gesichtspunkten selbst geschuldet ist, dass in erster Linie davon ausgegangen wird, illiterale Menschen wären einem extremen Leidensprozess ausgesetzt, der sich während der Kindheit aufgrund äußerst ungünstiger familiärer und schulischer Bedingungen eingestellt hat (vgl. Eg loff 1997, S. 151). Ausführlicher erklärt man: Da "funktionale Analphabeten" mit Diskriminierung rechnen müssen, leben sie in ständiger Angst vor Entdeckung und fürchten unangenehme Folgen (vgl. ebd., S. 158). Jederzeit können unvorhergesehene Änderungen im Lebensalltag sorgfältig aufgebaute Strategien zusammenbrechen lassen. "Ein solcher Einschnitt kann beispielsweise der Tod derjenigen Person sein, die bisher alle schriftsprachlichen Angelegenheiten geregelt hat" (ebd., S. 167). Hinzu kommt, dass viele funktionale Analphabeten denken, nur sie allein seien von diesem Problem betroffen. "Weder können sie glauben, daß auch andere dieses Problem haben, noch daß sie irgendwo auf Verständnis und Hilfe treffen" (ebd., S. 165). Nimmt man diese Probleme ernst, so müssen die bisherigen Erhebungen ergänzt werden. Es sind dann auch Personen zu befragen, die in Alphabetisierungskursen nicht auftauchen, wenngleich sie in diesem oder jenem literalen Funktionszusammenhang an ihre Grenzen stoßen. Man hat es bislang offensichtlich nur mit Selbstbeschreibungen eines bestimmten Typus des funktionalem Analphabetentums zu tun. Bereits angesichts der vorliegenden Selbstbeschreibungen zeichnen sich gegenläufige Tendenzen zu jener konstatierten Hilflosigkeit ab. Schon die Selbstbeschreibungen der lernenden Betroffenen, von Personen also, die professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, enthalten Hinweise, die zu pädagogischer Besonnenheit mahnen. Durchaus kann der Eindruck entstehen, dassje weiter man literale Umgangsformen fasst, desto weniger auch in pauschaler Weise anzunehmen ist -literal benachteiligte Menschen ihren gesellschaftlichen Verhältnissen ausgeliefert wären und unbedingt einer institutionalisierten Fürsorge bedürfen. Auch wenn dieser Aspekt keine alternative Interpretation darstellt, er kann eventuell doch als Korrektiv ungenauer pädagogischer Bezüge bedeutsam werden und soll im Folgenden ausgeführt sein. Wenn Teilnehmer von Alphabetisierungskursen über sich selbst Auskunft geben, artikulieren sie zumeist nicht nur eine Bedürftigkeit, die von ihrer Kursteilnahme bestätigt wird. In den wenigen bisher geführten Interviews wurde regelmäßig auch ein "Stolz auf die erreichte Lebensleistung" erhoben. Es scheint vor allem wichtig zu sein, im Sinne der Befragten zwischen Lernleistungen, insbesondere der literalen Art, und allgemeiner Lebensleistung zu unterscheiden. Während die literalen Lernleistungen vergleichsweise schlecht beurteilt werden -wobei es immer noch darauf ankommt, welche Vergleiche man anstellt -, entsprechen die Lebensleistungen jenen Einschätzungen nicht unbedingt und können durch erfolgreiches Arbeiten an den literalen Schwächen sogar positiv beurteilt sein. Illiterate Menschen sind sich wohl durchaus darüber im Klaren, dass es eine Leistung darstellt, wenn man sich im Leben trotz widriger Voraussetzungen, in sozialer, finanzieller und speziell literaler Hinsicht, sowie im ungünstigen Umfeld einer sozial separierten, finanziell anspruchsvollen und literal geprägten Gesellschaft zu behaupten versteht, wenn man einen Freundeskreis aufbauen, einen Beruf finden, eine Familie gründen kann. Seit in der Sozialforschung derartige Erfolge berücksichtigt werden, sehen pädagogische Aspirationen sich darauf hingewiesen, dass funktionale Analphabeten nicht bloß hilflose Opfer sind, sondern durchaus über "Expertenschaften" verfügen (vgl. . Man führt aus: Die auf Lernende beschränkten empirischen Befunde geben zwar keinen Anlass, die Bedürftigkeit jener Menschen grundsätzlich infrage zu stellen, nach wie vor wird ausschließlich ein pädagogischer Gegenstandsbereich wahrgenommen, doch die Mitteilung von positiven Selbstbildern regt dazu an, die Generalität der Defizitannahmen zumindest zu überdenken. Je breiter man ein Forschungsset anlegt, umso schwerer scheint es zu fallen, Kompetenzen und Erfolge, die trotz literaler Benachteiligung vorhanden sind, in systematischer Weise zu berücksichtigen. Allerdings können generelle Unterstellungen von Inkompetenz auch ökonomisch oder politisch begründet sein. Nicht nur fürsorgliche Zuwendungen können bevormundend wirken, oftmals steht hinter der Rede von Bildung und Lernen das Bestreben, einen Wirtschaftsraum möglichst profitabel zu gestalten. Vom Wirtschaftsraum aller OECD-Länder heißt es: Die Spannungen zwischen einem angeblichen Angebotsmangel trotz stark wachsender Nachfrage beziehungsweise einer Bildungsarmut trotz zunehmender Wissensgesellschaft auf der einen Seite und positiven Selbstbeschreibungen der Leistungs-oder Bildungsträger auf der anderen Seite werden empirisch kaum beachtet. Meist unterläuft man sie mit der gewagten These massenhafter Selbsttäuschungen. Gerade in literal geprägten Kulturkreisen aber ist eine "Hartnäckigkeit von Vorurteilen" ) zu beobachen, denn literale Kompetenzen werden eng mit sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital, mit Intelligenz, Lernfähigkeit, Kommunikationsgeschick, Charakter und Lebensfreude verquickt. Vielen Forschern erscheint es daher folgerichtig, dass Menschen ihre literalen Schwächen nicht nur vor anderen, sondern sogar vor sich selbst verbergen. In diesem Sinne geht man davon aus, dass Erwachsene mit einem niedrigen Literalitätsniveau ihr Problem gewöhnlich nicht erkennen oder zugeben. Testteilnehmende aller Stufen, die gefragt wurden, ob ihre Lesefertigkeiten ihren alltäglichen Anforderungen genügten, bejahten diese Frage mit überwältigender Mehrheit (vgl. OECD / Statistics Canada 1995, S. 135). Die Selbsteinschätzung der Betroffenen verhilft also nicht zur Auffindung beziehungsweise Festlegung eines Grenzwertes. Sie kann aber hinsichtlich der Wahrnehmung beziehungsweise der zu erwartenden Motivation wertvolle Erkenntnisse beisteuern . Die Gefahr besteht, methodisch ein Ressentiment zu transportieren. Denn Menschen, die nur über unzureichende Fähigkeiten im Lesen und Schreiben verfügen, müssen häufig erleben, dass diese Unfähigkeit "von anderen als Beweis für negative Charaktereigenschaften gesehen wird. Sie werden als ‚dumm' bezeichnet und allein auf dieses Defizit reduziert" . Man übersieht hier allerdings, dass das Ende einer fatalen Verlaufkurve nicht notwendigerweise mit Lese-und Schreibfähigkeiten zusammenhängt. Die Ursache liegt keineswegs immer im Analphabetentum, sondern hat oft andere Gründe, z. B. familiäre und schulische Probleme, Krankheit usw. Wenn nur einer dieser Gründe seine "Wirkung" verliert, kann sich eine Änderung der Lebenssituation einstellen, ohne dass das Problem unzureichender Schriftsprachenkenntnisse gelöst wäre (vgl. ebd., S. 123). So kann es beispielsweise jemandem gelingen, sich selbst aus seiner desolaten familiären Situation zu "befreien", indem er sich angesichts einer drohenden Heimeinweisung bei seinen Großeltern einquartiert
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Grundqualifikationen hinzuweisen, den " International Adult Literacy Survey" (IALS). (…) Literalität wird
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